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Angst vor Jürgen von der Lippe

Jürgen musste in den letzten Jahren viel leiden. Wie ich am Rande mitbekommen habe, hat er sich mehrfach medienwirksam (ich vermute mal, er wurde gefragt) gegen das Gendern ausgesprochen. Ich schreibe “am Rande mitbekommen”, weil ich versucht habe, mich dem zu entziehen. Ignoranz war das Gebot der letzten vier Jahre, denn: Ich hatte ein Ticket für seine Lesung.

Im Jahr 2018 habe ich das Ticket geschenkt bekommen. Und da wurde bemerkt, dass die Veranstaltung erst 2020 stattfindet. Der große von der Lippe in meiner Popelstadt? Das schaff ich! Dann kam Corona, die Lesung wurde ein Jahr verlegt, dann noch eins und fand 2022 endlich statt.

Jetzt habe ich in den Zuhausebleib-Jahren festgestellt, dass ich zwar mit Freuden zuhause bleibe, während es andere belastet und gleichzeitig hat sich meine Anxiety nicht wahnsinnig verschlimmert, wenn ich dann doch mal raus will/muss. Aber mein Default ist halt auch, dass ich ab ca einer Woche vor Eventstart anfange, mir immer wieder Gedanken zu machen, wo ich wohl sitze, wie ich mich fühlen werde, wie es sein wird, wenn’s dunkel wird, das Gemurmel, sitzt neben mir jemand, etc…

Ich war also ab einer Woche vorher wirklich angestrengt. Aber ich wollte da hin. Impulse, aus irgendeinem Grund doch nicht hinzugehen, habe ich erfolgreich bekämpft und habe mich dann am betreffenden Abend ins Auto gesetzt.

Wut schlägt Angst.

Wir spulen vor, ich will mich nicht zu sehr mit Panikdetails aufhalten, Betroffene und hier Lesende kennen das Spiel. Ich sitz da (juhuuu sogar zwei Plätze neben mir frei!), das Licht geht aus, der Applaus schwillt an, Jürgen tritt auf die Bühne. Ich nehme mir vor, meine innere Feministin auszuschalten, das hat ja schon bei Fips Asmussen gut funktioniert.

Ich applaudiere also ebenfalls. Das einzige Mal an diesem Abend.

Er legt los. Was jetzt folgt ist natürlich nicht Wort für Wort zitiert, der Inhalt bleibt aber erhalten. “Hallo, liebe Meppener” oder “Herzlich willkommen hier in Meppen” oder so. Irgendwas mit Meppen. “Das klingt komisch, oder? Aber ich darf ja heutzutage die normalen Begrüßungen nicht mehr sagen. ‘Meine Damen und Herren’? Da fühlt sich die LGBTQ+ Community direkt diskriminiert.” Er sagt nicht LGBTQ+, sondern beginnt mit L und reiht dann irgendwelche Buchstaben aneinander. Die Bezeichnung scheint für ihn Quatsch zu sein. Ich atme durch. Ich habe damit gerechnet, dass sowas kommt, ich habe nicht damit gerechnet, dass es die erste “Pointe” sein wird. Er fühlt sich wohl sehr verletzt. Oder bedroht. Ich vermute bedroht, verständlich, weil ein großer Teil seines Humors auf Geschlechterstereotypen basiert. “Männer, Frauen, Vegetarier”, anyone? Das fand ich damals lustig. Ich hab mich weiterentwickelt seit dem, aber ich verdien damit ja auch kein Geld.

Ich versuche, mich locker zu machen, gleich werde ich stimmungsmäßig reinkommen (remember Fips Asmussen, Tiffi!)!

Benachteiligte (Jürgen zählt auf)

“Dabei werden doch auch jede Menge andere Gruppen benachteiligt”. Ich weiß nicht mehr, ob er erst andere aufzählt oder direkt zu meinem Meltdown-Punkt kommt: Eine beleidigende Bezeichnung über kleinwüchsige Menschen. Und I don’t fucking care, ob er jetzt “man sagt doch auch nicht (…)” oder “(…) nennt man auch (…)”. Er spricht die Beleidigung aus.

Es folgen weitere Gruppen, Brillenträger glaube ich, ich habe es nicht mehr auf dem Schirm, weil ich noch nicht richtig verarbeitet habe, was er da grad gesagt hat. Er macht den nächsten “-ismus” auf. “Barack Obama z.B. ist Linkshänder. Der hätte in Ghana kein Präsident werden dürfen, weil” Jürgen impliziert, die gesamte ghanaische Bevölkerung hält die linke Hand für unrein. (Sie wollen wissen, ob seine Behauptung wahr ist? Lesen Sie mehr am Ende dieses Beitrags*)

Das Publikum lacht. Das vermutlich zu 90% katholische Publikum, welches an eine übermächtige, dem Menschen wohlgesonnene Gottheit glaubt, die für alles verantwortlich ist, was gut ist, aber leider nix verhindern kann, was schlecht ist, lacht über diesen ‘völlig absurden Aberglauben der Afrikaner’.

Die Witzlawine rollt weiter. Jürgen nimmt sich eine weitere Gruppe Diskriminierter vor: Die psychisch Kranken. “Wussten Sie, dass es Menschen gibt, die Ängste in der Öffentlichkeit haben?” No Shit, Sherlock.

Er witzelt über Menschen, die Angst davor haben, auf öffentliche Toiletten zu gehen. Bietet sich an, Pipi-Kaka-Pillermann-Humor kombiniert mit Freakshow-Voyeurismus. Das trifft natürlich nicht direkt meine Angststörung, aber nah genug. Menschen mit dieser Krankheit machen sich vermutlich im Vorhinein einer solchen Veranstaltung genauso viele Gedanken wie ich – mit dem Unterschied, dass es bei mir die Möglichkeit gibt, dass ich durch öffentliche Situationen ohne Panikattacke komme – aufs Klo müssen allerdings alle irgendwann mal.

Entschuldigungsfantasien

Alles danach ist eher Hintergrundrauschen. Ich sitze da und fantasiere. Kennt ihr vielleicht, wenn man sich vorstellt, was man grad gern machen oder sagen würde, aber natürlich nicht den Mut findet, es zu tun. Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe und ihm sage, dass dieses Ticket, das ihm seine Gage in dieser Noname-Kleinstadt bezahlt, von einer kleinwüchsigen Person gekauft und geschenkt wurde. Dass ich seit einer Woche darunter leide, dass dieser Termin ansteht und es eine Kraftanstrengung war, diesen Platz nicht freizulassen. Ich hab das für mich gemacht, aber eben auch für den Künstler; ich kann mir vorstellen, dass Publikumsinteraktion in den letzten Jahren gefehlt haben muss.

Er bietet an, nach der Veranstaltung die gekauften Bücher zu signieren, mit Wunschsprüchen. Ich fantasiere auf dem Rückweg im Auto davon, was ich ihn alles hätte schreiben lassen können: “Es tut mir leid.” ist kurioserweise meine liebste Rache-Signatur-Fantasie.

So, was machen wir jetzt damit?

Die Veranstaltung ist dermaßen lange her, meine Corona-Warn-App ist schon wieder von rot auf grün umgesprungen (das war natürlich noch die Endpointe der ganzen Veranstaltung). Ich hab seitdem immer wieder überlegt, ob ich was schreibe und wenn ja, wem und was.

Jürgen brauch ich nicht schreiben, ich möchte ihn nicht weiter verletzen.

Die Booker des Theater Meppen konnten 2017 bei der Vertragsunterzeichnung noch nicht wissen, wie jemand 2022 performen wird. Man kann dem Theater nicht vorwerfen, große Namen holen zu wollen, die dann leider während der Wartezeit abbiegen.

Ich kann und will ja auch gar niemanden “canceln”. Offenbar hatten die anderen Anwesenden da ja ‘nen guten Abend. Die meisten haben an den dafür vorgesehenen Stellen gelacht. Ich bin in der Pause zügig raus (vielleicht haben sich andere mehr Zeit genommen, aber) es wirkte, als wär ich die einzige, die in der Pause gegangen ist. Die meisten anderen haben durchgehalten (und besonders energisch an der Stelle applaudiert, als Jürgen sagte, dass er sich vorstellt, wie er vielleicht noch mitbekommt, dass auch Frauen einen Papst wählen – wer weiß, vielleicht kleiner ziviler Ungehorsam in seinem Saal?).

Was ich mir wünschen würde und da kommt das Theater ins Spiel: Eine ehrlichere Kommunikation. Wie wäre es, nicht (nur) die Promo-Texte der Künstler:innen zu nutzen, sondern dazuzuschreiben, wenn es zu entsprechenden Witzen kommen wird? Ich stelle mir das in etwa so vor:

“Jürgen von der Lippe liest aus seinem aktuellen Buch. -Promotext- Bitte beachten Sie: Er wird sich in seinem Programm über psychisch kranke Menschen lustig machen. Sollten Sie betroffen sein oder das Stigma psychischer Krankheiten nicht aktiv unterstützen wollen, empfehlen wir Ihnen, die Teilnahme an der Veranstaltung zu überdenken”

So vielleicht. Einfach offen, damit man sich aktiv dazu entscheiden kann, einen Kackabend zu vermeiden. Denn das wars. Ein Kackabend. Oder wie die Schenkerin sagte:

Ich verbleibe mit einem Link zu einer überraschend akkuraten Beschreibung meines besseren Abends damals bei Fips Asmussen, die Maria Lorenz-Bokelberg 2018 einst geliefert hat. Sie war selbst bei einem seiner Auftritte und ich habe alles, was sie sagt, 1:1 genauso empfunden. (Ab Minute 45:17.)

Alternativer Link für alle Spotify-Nichtnutzende: https://wimaf.podigee.io/3-oli-p-police-academy-i

*Es stimmt nicht. Man findet im Internet Infos über einen Stamm, bei dem diese Linkshänder-können-keine-Könige-sein-Regel gilt. Dieser Stamm, die Hohoe (kein eigener Wikipedia-Eintrag), zählt rund 206.000 Einwohner. Ghana hat über 30 Millionen Einwohner.

Autor

Tiffi

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